BDSM und psychologische Diagnostik

Disclaimer DSM und ICD Paraphilie Die dunkle Vergangenheit Die aktuellen Ausgaben: DSM-5 und ICD-10 Generelle Kritik an DSM und ICD Wie kam es zu diesen Veränderungen, und was sind die Auswirkungen? Schlussfolgerungen Quellen

Disclaimer

Ich habe weder einen psychologisch-medizinischen noch einen rechtlichen Hintergrund, sondern bezeichne mich als enthusiastischen Laien. Alle Information in diesem Blog stammt aus meiner eigenen Recherche, wobei ich mich dabei oft auf Zusammenfassungen von anderen Organisationen verlassen habe [3, 7, 8]. Dieser Blog kann aktualisiert werden, falls sich inhaltliche Fehler eingeschlichen haben sollten.

DSM und ICD

Es gibt zwei Standardwerke für die Klassifizierung von psychologischen Störungen: Das “Diagnostische und Statistische Manual Psychologischer Störungen” (kurz DSM, verfasst von der American Psychiatric Association APA [1]), sowie die breiter gefasste “Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme” (kurz ICD, verfasst von der Weltgesundheitsorganisation WHO [2]), welche sich über alle medizinischen Themen erstreckt. Die aktuelle Version DSM-5 wurde im Jahr 2013 veröffentlicht. Die ICD-10 stammt aus dem Jahr 1992, wurde aber mehrmals aktualisiert, zuletzt 2016. Die neue Version ICD-11 soll 2019 veröffentlicht werden. Die ICD ist wegen der gewollten interkulturellen Perspektive oft weniger präzise formuliert, während sich die DSM vor allem auf die Situation in den USA bezieht.

Sinn und Zweck von DSM und ICD sind die klare, strukturierte Definition und Diagnose von (psychologischen) Störungen, was die Kommunikation unter medizinischem Personal erleichtert, Behandlungen zuverlässiger macht und die Forschung erleichtert. Beide Werke sind in Kapitel und Codes aufgeteilt, wobei die Codes entweder identisch sind, oder mit Tabellen einander zugeordnet werden können. So findet sich zum Beispiel in beiden Werken der Code F65.5 “Sadomasochismus”, aber in unterschiedlichen Kapiteln: In der DSM-5 unter “Paraphile Störungen”, in der ICD-10 unter “Mental and behavioural disorders -> Disorders of adult personality and behaviour -> Disorders of sexual preference”.

Da es zur DSM in Bezug auf BDSM und sexuelle Orientierung bessere Sekundärliteratur gibt, beziehen sich die fortan aufgeführten Beispiele fast ausschliesslich auf die DSM. Die Kapitel der ICD zu diesen Themen haben aber im selben Zeitraum eine sehr ähnliche Entwicklung erlebt.

Paraphilie

Unter den Fachbegriff Paraphilie fallen sämtliche Aktivitäten, welche zu sexueller Erregung führen, aber nicht die Genitalien umfassen. Dazu gehören einerseits fast sämtliche BDSM-Aktivitäten, andererseits aber auch kriminelles Verhalten ohne Einverständnis. Die DSM V definiert Paraphilie wie folgt [4]:

“Der Begriff der Paraphilie bezeichnet jedes intensive und anhaltende sexuelle Interesse, das kein sexuelles Interesse an genitaler Stimulation oder am Vorspiel für sexuelle Handlungen mit phänotypisch normalen, körperlich erwachsenen, einwilligenden menschlichen Partner ist.”

Folgende paraphilen Störungen werden explizit unterschieden:

  • Voyeurismus (andere Menschen bei sexuellen Aktivitäten beobachten)
  • Exhibitionismus (eigene Genitalien vor anderen Menschen entblössen)
  • Frotteurismus (sich an anderen, nicht einwilligenden Menschen reiben)
  • Masochismus (selber gedemütigt, geschlagen oder gefesselt werden)
  • Sadismus (andere Personen demütigen, schlagen oder fesseln)
  • Pädophilie (sexuelles Interesse an Minderjährigen)
  • Fetishismus (sexuelle Erregung durch unbelebte Objekte oder nicht-sexuelle Körperteile)
  • Travestie (sexuelle Erregung durch Crossdressing)

Diese Paraphilien werden explizit Definiert aufgrund ihrer relativen Häufigkeit verglichen mit anderen Paraphilien, und weiter wegen ihrer teilweisen strafrechtlichen Relevanz durch Schädigung unbeteiligter bzw. nicht einwilligenden Menschen.

Unter “Andere Näher Bezeichnete Paraphile Störung” fällt alles, was die Grunddefinition von Paraphilie erfüllt, aber nicht in eine der acht explizit definierten Paraphilien fällt. Zu dieser Diagnose wird ein medizinisch etablierter, aber nicht als Paraphilie definierter Begriff an die Diagnose angehängt, zum Beispiel Zoophilie.
Die Diagnose “Nicht Näher Bezeichnete Paraphile Störung” wird angewendet, wenn eine genauere Angabe nicht möglich oder nicht gewollt ist.

Der Aufbau der Kapitel ist wie folgt: Zuerst wird der Fachbegriff genannt (zum Beispiel “Sexuelle Masochistische Störung”, F65.51), gefolgt von den “Diagnostischen Kriterien”. Diese sind aufgeteilt in zwei Teile:

  • Kriterium A, also der erste Teil, umfasst die “qualitative Eigenschaft der Paraphilie” (also erforderliches Verhalten und/oder Symptome), welche für die Diagnose der Paraphilie erfüllt sein müssen.
  • Der zweite Teil, Kriterium B, beschreibt die “negativen Auswirkungen der Paraphilie (z. B. Leiden, Beeinträchtigungen oder Schädigung von anderen).”

Von essenzieller Wichtigkeit ist die Unterscheidung zwischen Paraphilie und Paraphiler Störung. Wenn nur Kriterium A erfüllt ist, handelt es sich um eine Paraphilie, also eine Diagnose ohne Folgewirkung. Wenn beide Kriterien erfüllt sind, handelt es sich um eine paraphile Störung, also eine Krankheit welche ggf. behandelt werden sollte.

Die dunkle Vergangenheit

Diagnostische Klassifizierungen werden jeweils auf dem (Un-)Wissen der jeweiligen Zeit gebildet; wobei Politik und Gesellschaft immer einen starken Einfluss darauf hatten, über was überhaupt geforscht und welche Resultate publiziert werden dürfen. Zwei Beispiele dafür sind Galileo Galilei, welcher fast hingerichtet wurde für seine ketzerische Behauptung, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums ist, oder die höchst polemisch-misogyne Diagnose der “Hysterie”. In einer Zeit, in der Sex nur in {natürlich heterosexueller!) Ehe zwecks Fortpflanzung und allerhöchstens in der Missionarstellung stattfinden durfte, sollte es nicht überraschen dass jegliche andere Form von Sexualität als Krankheit eingestuft wurde.

In den ersten beiden Ausgaben der DSM war die Klassifizierung von BDSM vage und nicht sehr spezifisch als “sexuelle Devianz” bezeichnet.

Mit der DSM-III-R von 1987 wurde der Begriff Paraphilie (griechisch “pará” = abseits, neben; “philía” = Freundschaft, Liebe) eingeführt und die oben erwähnten zweiteiligen diagnostischen Kriterien eingeführt. So war zum Beispiel die “Sexuelle Masochistische Störung” neu wie folgt Definiert (Kriterium A):

“Über einen Zeitraum von mindestens 6 Monaten wiederkehrende intensive sexuelle Erregung aufgrund von Handlungen, die Gedemütigt-, Geschlagen- oder Gefesseltwerden umfassen oder auf andere Weise Leiden hervorrufen.”

Diese Definition macht soweit Sinn und ist auch in der aktuellen DSM V nahezu unverändert. Allerdings lautete Kriterium B, also die Voraussetzungen ob eine psychische Krankheit vorliegt und ggf. behandelt werden muss:

“Die Person hat diese Bedürfnisse ausgelebt oder ist durch sie merklich beeinträchtigt”

Folglich wurde jede Form von Masochismus, auch wenn nur als Phantasie oder mit einwilligenden, urteilsfähigen Erwachsenen, zwangsweise pathalogisiert. Im Einleitungstext wird ausserdem erwähnt, dass die Ausübung der Paraphilien einvernehmlich sein kann, aber normalerweise nicht ist, und somit grundsätzlich von einer pathologischen Störung ausgeht falls nicht explizit das Gegenteil bewiesen wurde.

Dies hatte auf alle Menschen mit dieser Paraphilie massive Auswirkungen von gesellschaftlicher Stigmatisierung, Brandmarkung als krank und pervers, bis hin zu rechtlichen Nachteilen, zum Beispiel im Falle von Entzug der Obhut der eigenen Kinder.

In der DSM-IV wurde Kriterium B geändert zu:

“Die Fantasien, sexuellen Bedürfnisse oder Verhaltensweisen verursachen in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, geschäftlichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.”

Auf den ersten Blick scheint nun nicht mehr automatische jede masochistische Paraphilie eine paraphile Störung zu sein – wäre da bloss nicht die Definition von “Leiden oder Beeinträchtigungen in klinisch bedeutsamer Weise”. Diese beinhaltete damals unter anderem “führt zu rechtlichen Komplikationen” und “beeinträchtigen soziale Beziehungen”. Ersteres ist klar kein medizinisches Kriterium, sondern ein Rechtliches; letzteres akzeptiert das verursachte Leid durch das gesellschaftliche Stigma als massgebend. Beides führt dazu, dass der Unterschied zwischen Paraphilie und paraphiler Störung nicht nur von subjektbezogenen medizinischen, sondern auch von gesellschaftspolitischen Kriterien abhängt.

Die aktuellen Ausgaben: DSM-5 und ICD-10

Die Kriterien für “Leiden oder Beeinträchtigungen in klinisch bedeutsamer Weise” wurden angepasst und die beiden beanstandeten Punkte ersatzlos gestrichen. Der Unterschied zwischen einer Paraphilie und einer paraphilen Störung basiert nunmehr ausschliesslich auf medizinischen Kriterien.

Weiter wird in der Einleitung zum Kapitel “Paraphile Störungen” [4] der Unterschied zwischen Paraphilie und paraphiler Störung herausgestrichen:

“Eine paraphile Störung ist eine Paraphilie, die gegenwärtig zu Leiden oder Beeinträchtigungen des Betroffenen führt, oder eine Paraphilie, deren Befriedigung mit persönlichem Schaden oder dem Risiko der Schädigung anderer verbunden ist. […] Eine Paraphilie für sich genommen rechtfertigt oder erfodert nicht notwendigerweise eine therapeutische Intervantion.”

Weiter wird betont, dass eine paraphile Störung nur dann vorliegt, wenn sowohl Kriterium A als auch Kriterium B erfüllt sind. Ausserdem wird die Selbsteinschätzung der betroffenen Person normalerweise als Beurteilungskriterium herangezogen [10].

Für weitere Paraphilien wird ähnliches angegeben, sofern sie einvernehmlich ausgeübt werden und andere Lebensbereiche der betroffenen Personen nicht beeinträchtigen.

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass die aktuelle DSM-V ein eigentlicher Befreiungsschlag für BDSM darstellt und als einer der Grundpfeiler zur steigenden Akzeptanz in der Gesellschaft angesehen werden kann.

Mit der DSM-5 gab es ausserdem Verbesserungen für Transmenschen: Der Begriff “gender identity disorder” (Geschlechtsidentitätsstörung) wurde gestrichen, stattdessen gibt es “gender dysphoria” für Personen, die unter einem nicht mit ihrer Geschlechtsidentität entsprechenden Körper leiden. Auch hier wurde anerkannt, dass eine Diskrepanz zwischen bei der Geburt zugewiesenem Geschlecht und der Geschlechtsidentität nicht zwangsweise eine pathologische Störung darstellt. Die Maxime ist fortan nicht mehr das Beheben einer Störung, sondern wie diese Diskrepanz vermindert werden kann [11]. Für die ICD-11 ist eine mindestens so fortschrittliche Betrachtung zu Transmenschen angekündigt.

Generelle Kritik an DSM und ICD

Es gibt Stimmen, die dafür plädieren dass sämtliche Paraphilien ersatzlos gestrichen werden. Dies wäre für den Ruf von BDSM’ler_innen sicherlich förderlich, aber tatsächlich unter ihren Paraphilien leidende Menschen wäre mangels medizinischer Grundlage schwieriger zu helfen. Da letzteres eines der Kernanliegen von DSM und ICD sind, ist eine solche Forderung aussichtslos.

Wie kam es zu diesen Veränderungen, und was sind die Auswirkungen?

Die spektakulärste Untersuchung zur menschlichen Sexualität jener Zeit war der erste Kinsey-Report von 1948: Darin wurde unter anderem Aufgezeigt, dass Devianz und Paraphilie bei 22% der (amerikanischen) Bevölkerung vorkommen, und wie weit verbreitet Bi- und Homosexualität tatsächlich ist. Diese Studie war dermassen kontrovers, dass Dr. Kinsey eine Zeit lang die zweitbekannteste Person der USA gewesen sein soll, geschlagen nur vom Präsidenten. Die Sexuelle Revolution der 60er-Jahre taten ihr übriges, dass sich die Forschung fortan objektiver mit dem Thema Sexualität befasste.

Dass Homosexualität in der DSM-III nicht mehr als Krankheit aufgelistet wurde, verdanken wir massivem Lobbying unter anderem von der “Gay Liberation Front”, welche an Tagungen der APA lautstark protestierten und auf Beachtung der neuen Forschungsresultate pochten.

Ein ähnlich grosser Einsatz war nötig, damit diverse Unterkategorien von BDSM nicht mehr pauschal als paraphile Störung abgestempelt werden. Ein spezieller Dank geht an Guy Baldwin [5] und Race Bannon [6], welche 1987 als Reaktion auf die DSM-III-R das erste “DSM-Project” starteten. Baldwin, selber schwuler Leatherman und Psychotherapeut, sah dass die Pathalogisierung von BDSM starke Auswirkungen auf die Gesetzgebung und Rechtssprechung hatte und somit zu massiver Diskriminierung führte.

Mit den Kontakten, welche die beiden bei ihrem Engagement knüpften, gründeten sie später die “Kink Aware Professionals”, ein Zusammenschluss von kink-friendly Fachpersonal unter anderem aus dem medizinischen Bereich.

An dieser Stelle etwas Werbung in eigener Sache: Die IG BDSM ist eine eigene Kink Aware Professionals Liste für die Schweiz am erstellen, welche sich hier findet.

Später wurde das DSM-Projekt von der “National Coalition of Sexual Freedom” (NCSF, gegründet 1997) unter der Leitung von Susan Wright [9] weitergeführt. Mit einer breit angelegten Kampagne wurden die oben genannten Verbesserungen in der DSM-V erreicht. Diese Kampagne beinhaltete unter anderem den direkten Kontakt mit verantwortlichen Personen aus der Arbeitsgruppe zum Kapitel Pharaphilie und das Aufzeigen der breiten Unterstützung der Forderungen unter Fachexperten. Darunter befanden sich auch Forscher_innen, die mit Publikationen in renommierten Wissenschaftsmagazinen den Diskurs signifikant beeinflussten.

Gemäss der NCSF werden als direkte Folge der Änderungen in der DSM-V massiv weniger Kinder der Obhut von BDSM-affinen Eltern entzogen, und die Anzahl der gemeldeten Diskriminierungsfälle fiel auf einen Bruchteil des Wertes vor der Veröffentlichung der DSM-V.

Schlussfolgerungen

An dieser Entwicklung lässt sich aufzeigen, wie wichtig wissenschaftliches und politisches Engagement der BDSM-Community im Allgemeinen und deren Exponenten im Speziellen sind. Unsere Szene hier hat viel von den Errungenschaften aus den USA profitiert, doch fehlt dadurch leider eine schlagkräftige Organisation zum Durchsetzen vor richtigen Veränderungen.

Es zeigt aber auch, dass gesellschaftlicher Wandel extrem träge ist und die Vorkämpfer für Veränderungen zum Besseren oft selber nicht mehr von ihren Errungenschaften profitieren können.

Quellen


[1]: https://www.psychiatry.org/psychiatrists/practice/dsm
[2]: http://www.who.int/health-topics/intern … f-diseases
[3]: https://ncsfreedom.org/key-programs/dsm … ogram-page
[4]: DSM V, Deutsche Ausgabe, Kapitel “Paraphile Störungen”, S. 941f
[5]: https://leatherhalloffame.com/inductees … uy-baldwin
[6]: http://bannon.com/bio/
[7]: https://www.theatlantic.com/health/arch … sm/384138/
[8]: http://www.fearlesspress.com/2013/07/26 … t-on-bdsm/
[9]: http://positivesexuality.org/sexposcon- … ight-ncsf/
[10]: DSM V, Englische Ausgabe, Kapitel “Paraphile Störungen”, S. 703
[11]: https://www.scientificamerican.com/arti … diagnosis/

Geschrieben von ralph_himself

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